Im Tal der Tränen

Von Melanie Meyer

Annett Kaufmann muss sich festhalten. Sie breitet die Hände über dem kleinen Pult vor sich aus, umfasst die Ecken. Sie muss sich konzentrieren, um nicht die Fassung zu verlieren. Ihre blauen Augen schwimmen. „Es ist gerade schwer“, sagt sie mit stockender Stimme, eine Träne rinnt ihre Wange herunter. „Ich glaube, wenn ich wieder zu Hause bin und ein bisschen Pause vom Tischtennis habe, dann kann ich auch das Positive sehen und stolz auf mich sein. Jetzt gerade ist die Enttäuschung groß.“ Die 18 Jahre alte Bayerin hat bei ihren ersten Olympischen Spielen in Paris mit dem deutschen Frauen-Team die große Überraschung verpasst und das kleine Finale um Bronze klar mit 0:3 gegen Südkorea verloren. Außer im Doppel waren die Asiatinnen in allen Spielen klar überlegen – und stürzten das deutsche Team in ein Tal der Tränen. Xiaona Shan, mit 41 Jahren die erfahrenste Spielerin im Team und von Nackenproblemen beeinträchtigt, brach nach ihrem verlorenen Abschlusseinzel weinend hinter der Bande zusammen. Die Team-Silbermedaillengewinnerin von 2016 musste minutenlang von Bundestrainerin Tamara Boris und ihren Team-Kolleginnen Kaufmann und Yuan Wan (27) getröstet werden. „Wir sind eine Mannschaft, wir gewinnen und verlieren zusammen. Und wenn es einer nicht so gut geht, dann versuchen wir, sie aufzubauen und Mut zuzusprechen“, sagte Kaufmann später. Man dürfe nicht vergessen: Dieses Team war mit zwei Ersatzleuten angetreten. Ying Han hatte sich bereits vor Olympia die Achillessehne gerissen, während der Einzel wurde Nina Mittelham von einer Bandscheibenproblematik gestoppt. Es musste improvisiert werden. „Gerade tut es weh, aber ich muss zufrieden sein“, sagte Shan. „Wir dachten, wir scheiden in der ersten Runde aus – jetzt standen wir im Halbfinale.“

Wie „Phönix aus der Asche“

Der nun erreichte vierte Platz liegt weit über den Erwartungen. So sah es auch Richard Prause, Sportdirektor des Deutschen Tischtennis-Bundes. „Große Gratulation ans Damenteam“, sagte er. „Dass es sich als Phönix aus der Asche erhebt und hier als beste europäische Mannschaft ins Halbfinale kommt, ist eine herausragende Teamleistung, da muss man ganz großen Respekt zollen.“ Erstmals seit 2004 blieb die deutsche Delegation ohne Medaille. Die Männer um Timo Boll waren im Viertelfinale ausgeschieden. Mit der Niederlage gegen Lee Eunhye endete für Annett Kaufmann ein beeindruckendes Turnier. Fünf Einzel hatte sie zuvor gewonnen, nun war für sie nichts zu holen, 0:3 verlor sie. Der Südkoreanerin gelang es, genau das zu spielen, was ihr Probleme bereitete. Die bislang so cool spielende Kaufmann wirkte müde, nervös, ungeduldig, haderte viel mit sich. „Ich habe mich nicht so wohl am Tisch gefühlt“, gestand sie. Doch Boros wollte den großartigen Eindruck, den Kaufmann vor allem durch ihren Sieg gegen Miwa Harimoto – die Nummer acht der Welt aus Japan – hinterlassen hatte, nicht getrübt wissen: „Annett hat ein überragendes Turnier gespielt“, sagte sie. „Sie hat gezeigt, dass sie nicht nur unsere Zukunft ist, sondern schon jetzt zur Weltklasse gehört.“ Die Tränen werden trocknen. Nach dem Urlaub wird sich der Schmerz in Stolz verwandelt haben.